Johannes Stahl

Graffiti reloaded



CHAM:
Die Überraschung des Wärters, der, nachdem er den Charivari ganz allein eingesperrt hatte, ihn eine Stunde später von einem Haufen Personen umgeben wiederfindet.
Illustration in "Le Charivari

Graffiti sind längst keine jüngste Geschichte mehr. Als Grundumstand des menschlichen Ausdrucks existieren sie, seit sich die menschliche Spezies mit dem Bildermachen beschäftigte. Eine zwar dünne, aber präzise Spur dieser Zeichen an den Wänden ist durch die gesamte Kulturgeschichte hindurch zu verfolgen, und auch das, was zu den verschiedenen Zeiten als Kunst gegolten hat, greift diese alte Geschichte immer wieder gerne auf.

Im neunzehnten Jahrhundert zeigen sich die Graffiti als Gegenstand künstlerischer Betrachtung, Darstellung und Argumentation deutlich häufiger. Das hat Gründe. Auch die Kunst etabliert sich allmählich von ihren Auftraggebern; der „freie“ Künstler wird ein Leitbild. Wenn es auch wirtschaftlich mit Einbußen verbunden war, wie sie der „Arme Poet“ von Carl Spitzweg (auch dies ein Bild mit Schrift an der Wand und Schuldenstrichen am Türrahmen) drastisch vor Augen führt: in die Unfreiheit wollte keiner mehr so gern zurück, ob Revolutionär, Romantiker, Biedermeier, Klassiker oder Gründerzeitler.

Natürlich haben auch früher schon Graffiti gesellschaftliche Regeln gebrochen. Aber gerade dadurch sind sie für Künstler und andere Freidenker interessant gewesen. So war die gegenseitige Karikatur auf die Wand eine typische Beschäftigung unter Künstlern, die nach Italien gereist sind 1. Diese Form künstlerischer Interaktion hat eine weitläufige Tradition, die auch große Namen einschliesst. Aber nicht nur Künstler im fernen Rom - für die nach damaligen Verhältnissen die Freiheit recht groß war - zeichnen auf die Wände. Gleichzeitige Graffiti in Universitätskarzern entsprechen diesen Wandzeichnungen weitgehend. Hier waren die Urheber keine Künstler, sondern Studenten, die Regeln und Gesetze übertreten hatten. Eigentümlicherweise lassen sich diese Graffiti heute gerade dort nachweisen und untersuchen 2, wo die persönliche Freiheit eingeschränkt war und sich - möglicherweise gerade deshalb - zumindest der persönliche Ausdruck frei zeigte. Das läßt sich durchaus auch argumentativ untermauern: neben dem üblichen Unfug sind recht deutliche Appelle an die aufkommende deutsche Einigung und an die Befreiung vom Adel erkennbar.

Diese Übung ist keineswegs eine deutsche Individuallösung: an verschiedensten Orten in Europa sind Gefängnisgraffiti überliefert, und häufig stehen sie im Zusammenhang mit den politischen Zeitumständen. Die Inhaftierungen werden nicht selten ähnliche Gründe gehabt haben.



Als speziell innerhalb des Künstlertums ausgeübte Gattung konnte die Karikatur oft kritischere Positionen gegenüber Themen und Gestaltungsweisen der offiziellen Kunst beziehen als beispielsweise die Malerei. Mit der Möglichkeit zur Vervielfältigung bot sich der Karikatur ein steigendes öffentliches Interesse; sie wurde dadurch schließlich zu einem ernstzunehmenden Medium mit hohem politischen Wirkungsgrad. Aaron Sheon hat in seinem Aufsatz "The discovery of Graffiti" 3 wichtige Aspekte zu dieser Verbindung von Graffiti und Karikatur präsentiert und dabei auch den umfangreichen kunsttheoretischen Hintergrund dieser Verwandtschaft verdeutlicht. Das Hauptaugenmerk des künstlerischen Interesses an Graffiti lag demnach hauptsächlich auf der unkonventionellen Gestaltungsweise, die gleichzeitigen Überlegungen von Charles Baudelaire und seiner Zeitgenossen zur Gattung der Karikatur entsprach 4, aber auch im Zusammenhang mit der sich damals entwickelnden Faszination für das Exotische und Primitive allgemein stand.

Sheons Beobachtungen erscheinen in einem anderen Licht, wenn man sie mit Hinweise aus dem Werk Victor Hugos ergänzt. Dieser einflussreiche französische Dichter und Denker hat in besonderem Umfang vom Motiv der Graffiti Gebrauch gemacht. Hugos Text "Les griffonages de l'écolier" betrachtet die Randkritzeleien im Lateinheft seines Enkels Charle und malt in pathetischem Ton die phantasievollen Eskapaden des Kinds aus. 5

Natürlich wird Charle bei dieser Betätigung erwischt und muß zur Strafe tausend Verse abschreiben. Voller Mitleid fährt Hugo fort: "Charle sanglote, et dit: Ne pas jouer aux barres! Copier du latin ! Je suis chez les barbares !" Der Verweis auf die Barbaren stellt die Welt der Ausbildung von Kindern auf den Kopf: Barbarisch ist es, Lateinverse zu kopieren; die spielerischen Randzeichnungen werden zum eigentlichen Kulturgut, zur "enormen Arbeit". Diese Flucht des überarbeiteten Kindes in die Imagination einer Welt der Phantasie bildet für Hugo eine natürliche Reaktion, die auch in seinem eigenen Schaffensprozeß zum Ausdruck kommt. An seinen Verleger Castel schreibt er:

"Der Zufall hat einige meiner Zeichenversuche unter Ihre Augen gebracht - Versuche, die ich in träumerischen Stunden fast unbewußt mit der Tinte, die in meiner Feder blieb, gemacht habe, auf den Rand oder die Umschläge der Manuskripte. (...) Ich fürchte sehr, daß diese unbedeutenden Federstriche, die mehr oder weniger geschickt von einem Mann aufs Papier geworfen wurden der anderes zu tun hat, das bleiben werden, was sie sie sein wollten: Schöpfungen des Augenblicks."


Tatsächlich sind die Zeichnungen für Hugo ein ähnlicher Ausgleich gewesen wie die "griffonages" für den kleinen Charle. So gehen manche Skizzen Hugos von Tintenklecksen aus und konkretisieren sich zu Zeichnungen, die dem Autoren seine Charaktere der "Miserables" in bestimmten Situationen klären helfen7. Diese sinnierende Betrachtung und seine praktische Umsetzung der eigenen Imaginationsfähigkeit sind Impulse, die sogar ganze Romane auslösen können. Sein Vorwort zu dem frühen Roman "Notre Dame de Paris" verdeutlicht diese Haltung:

"Als der Verfasser dieses Buches vor einigen Jahren die Notre-Dame besuchte, oder richtiger: sie durchspürte, fand er in einem ihrer Türme, eingegraben in eine finstere Nische, das Wort:
ANA
rKI
(...) Der Mensch, der das Wort auf die Mauer geschrieben hat, ist schon vor Jahrhunderten von seinen Zeitgenossen geschieden; dann ist das Wort an der Mauer verblichen, und auch die Kirche selbst wird vielleicht bald vom Erdboden verschwinden.
Aus diesem Wort aber ist dieses Buch entstanden."
8
Durch die Inschrift verschrieb sich der Priester Claude Frollo einer Art Teufelspakt, nachdem er in seinen gelehrten Studien keine Erfüllung mehr sah und sich verliebt hatte. Das vorgefundene Wort nimmt im Verlauf des Buches die verschiedensten Bedeutungen an und bleibt als zentrales Motiv immer präsent. Daneben weist es auf eine historische Umbruchssituation im ausgehenden Mittelalter des Romans hin, der Hugo deutliche Parallelen zu seiner eigenen Zeit verleiht. Die ehrfürchtige Aufmerksamkeit, die er der geheimnisvollen Inschrift gewidmet hatte, wünscht sich Hugo nicht zuletzt für den Umgang mit den Bauwerken des mittelalterlichen Paris, die um die Jahrhundertmitte in immer größerer Anzahl abgerissen wurden 9. Mit seiner romantischen Schilderung einer Atmosphäre, in der solche Zeichen an der Wand oder auch nur ihre die Phantasie beflügelnde brüchige Beschaffenheit eine wichtige Rolle spielen, entsprach Hugos Position der des Stechers Charles Meryon oder vieler Fotografen, die die Demontage des alten Paris beklagten, indem sie mit ihren Fotos gerade an diese romantischen Seiten des alten Paris erinnerten 10. Ein solches verstärktes Interesse intellektueller Kreise an der vergehenden Alltagskultur in Paris bezog auch die Graffiti mit ein 11; dabei bildeten in dieser Zeit veröffentlichte Forschungen der Archäologen zur Alltagskultur der Antike seinen Hintergrund 12

Gustave Brion: Dom Frollo ritzt das Wort ANArKI in die Mauer.
Holzstich, Illustrationszeichnung 1868.
Aus Victor Hugo: Notre-Dame de Paris, S. 168



Zumindest teilweise scheint dieses Interesse auch in umgekehrter Weise existiert zu haben: die äußerst wachen Pariser "gamins"- eine metropolitäre Gattung der Straßenjungen - entdeckten auf einer Zeichnung Auguste Bouquets die auf den französischen "Bürgerkönig" Louis-Philippe gemünzte Birnenkarikatur. Die berühmte Karikatur Charles Phillipons, die umfangreiche Prozesse um die Pressefreiheit nach sich gezogen hatte, war 1830 ebenfalls in "La Caricature" erschienen und hatte den Kopf des ungeliebten Monarchen aus physiognomisch naheliegenden Gründen zu einer Birne verwandelt.6
Die Zeichnung zeigt eine Frau, die sich aus dem Fenster lehnt und sich über die Birnengraffiti der Gamins ärgert: "Macht Euren Dreck woanders, Ihr Ferkel". Diese Verwendung intensiviert sich während der Regierungszeit von Louis-Philippe in "La Caricature" und - nach dem Verbot der Zeitschrift und der Verschärfung der Zensur - in dem ebenfalls von Phillipon gegründeten satirischen Tageszeitung "Le Charivari", die im Vergleich weniger scharf ausfiel und damit überlebensfähig blieb. Längst hatte die Verwendung des Birnenmotivs den Charakter einer ausgewachsenen Pressekampagne angenommen. Jedoch nicht die Birne, die Phillipon als Layoutform der letzten Ausgabe seiner "Caricature" zur obligatorischen Verkündigung der Zensurgesetze gab, scheint das ausschlaggebende Moment gewesen zu sein, sondern eine nach einem Anschlag auf den König verschärfte "Law-and-Order-Haltung".

Auguste Bouquet: "Voulez Vous faire vos ordures plus loin, polissons!" Lithographie, nachträglich koloriert, in: "La Caricature" vom 17.1.1833


Joseph-Charles Traviés des Villers:
"La poire est devenue populaire."
Lithografie April 1833 (?), in "Le Charivari"


"Die Birne ist populär geworden" verkündet Joseph-Charles Traviés des Villers und zeigt einen Rotzlöffel bei seinen Zeichenübungen. Dabei wird er durchaus deutlicher: "Voleur" liest man neben der Birne. Der Bürgerkönig als Dieb? Majestätsbeleidigungen - auch wenn sie in der symbolisierten Form der Birne und unter dem vergleichsweise konzilianten Regime Louis-Phillipes stattfanden - hatten durchaus Auswirkungen. Der Siegeszug der Birne ist jedoch anscheinend nicht aufzuhalten gewesen, zumal es offensichtlich der Impuls dieser legendären Karikatur leicht gehabt hatte, von der gedruckten Form auf die Wände in der Öffentlichkeit überzugehen.



Auguste Bouquet: "Ah! petit drôle de prince,
Je vous y prends cette fois....on est jamais trahi que par les siens!"
Lithographie in Le Charivari No.358, .11.1833

Selbst auf die Jugend der höchsten Häuser scheint der Virus überzuspringen. Wiederum Auguste Bouquet zeigt einen vornehm gekleideten Knaben beim Birnenzeichnen. Um die Ecke kommt ein dieser Zeichnung auffällig ähnelnder Mann: der König selbst erwischt seinen Sohn bei einem Spottbild. ""Hab ich Dich erwischt, kleiner komischer Prinz. Man wird doch von niemandem so verraten wie von seinen eigenen Leuten."



Victor Hugo hat mit dem Gamin Gavroche in seinem Roman "Les Miserables" die Standardfigur des Pariser Straßenjungen entworfen. Bevor er Gavroche in den Roman einführt, holt er weit aus und schildert in zwölf kurzen Kapiteln Besonderheiten der Gamins. Eines dieser Charakteristika des Gamins ist seine Lernfähigkeit:

"Dieser Knirps -so bezeichnet er sich selbst- kann mitunter lesen, bisweilen schreiben, Wände beschmieren kann er immer. Ohne sich lang zu besinnen, bildet er in irgendeinem geheimnisvollen, gegenseitig erteilten Unterricht alle Fähigkeiten aus, die dem Gemeinwesen dienlich sein können: Von 1815 bis 1830 ahmte er den Schrei des Truthahns nach, von 1830 bis 1848 krakelte er eine Birne auf die Mauern. An einem Sommerabend sah Louis-Phillipe, der zu Fuß heimkehrte, einen richtigen Dreikäsehoch, wie er schwitzte und sich reckte, um mit einem Stück Kohle eine riesenhafte Birne auf einen Pfeiler vom Gittertor nach Neuilly zu zeichnen. Gutmütig wie Heinrich IV. half der König dem Straßenjungen, vollendete die Birne und schenkte dem Kind einen Louisdor mit den Worten: "Die Birne ist auch drauf." 13
Victor Hugo führt in der Reaktion des Königs eine abgeklärte Reaktion auf die Provokation in der Karikatur vor, die auch etwas von Hugos eigener Einstellung zu den Graffiti widerspiegelt: sie sind eine typische Ausdrucksform des Straßenproletariats; dem Dummejungenstreich fehlt die politische Schärfe. Allerdings läßt sich ahnen, daß die Konfrontation von Monarch und kritzelndem Gamin nicht nur anekdotisch gemeint ist: der Gamin Gavroche wird sich im Verlauf des Romans als tapferer Verfechter der Revolution hervortun, wobei ihm Charakterzüge wie seine spontane Kreativität, Erfahrung im Wahrnehmen seines privaten Vorteils und die Fähigkeit zur praktischen Umsetzung seiner Gedanken zugute kommen.

Gustave Brion: Le roi acheva la poire. (Der König vollendet die Birne.)
Holzstich nach Illustrationszeichnung.
In: Victor HUGO: Les miserables. Paris 1863.



Über das Wesen der Gamins haben sich verschiedene Schriften der Zeit Gedanken gemacht; in den Illustrationen dazu sind die Graffiti geradezu zum Erkennungszeichen des Gamin geworden 14. Auch eine populäre Zeitschrift wie der "Intermediaire des Chercheurs et Curieux", der auf briefliche Anfragen hin Antworten abdruckte, stellt das in seiner Ausgabe vom 10. März 1866 unter der Überschrift "Les inscriptions murales du gamin de Paris" fest:
"Le carbon de sa (Des Gamin, J.S.) fabrique ou le crayon rouge de son atelier retracent (avec illustrations souvent) une exhibition permanente de ses blames, de ses attaques, de ses luoanges, de ses scies, - de ses questions et ses réponses. - Le mur est l'Intermediaire naturel du gamin."15
Neben dem deutlich ausgesprochenen Hinweis drauf, daß die Graffiti ein öffentliches Kommunikationsmedium der Gamins sind, findet sich hier die Parallele von Künstlertum und Gamin: die Straßenjungen werden mit Begriffen wie "atelier", "illustrations" und "exhibition" in Verbindung gebracht.
Dass in der gleichen Zeit durchaus intensiv, aber aus unterschiedlichen Perspektiven und Gründen über den Gamin nachgedacht wurde, zeigt auch eine Publikation wie "Le Gamin de Paris", die neben dem durchaus sympathischen revolutionären Schwung auch ein genaueres Augenmerk auf die Lebensumstände der Strassenkinder legte. Dabei steht jedoch nicht unmittelbar die wissenschaftliche Recherche im Vordergrund, aber eine auch in den zeitgleichen Romanen deutliche Wachheit für soziale Schieflagen paart sich mit dem Wunsch unterhaltsamer Aufklärung. Auch wenn sie aus der Feder eines deutlich weniger revolutionär gesinnten Illustratoren stammt, zeigt die Zeichnung Charlets den Gamin misamt den Graffiti. Diesmal ist jedoch - Charlets eigenen Vorliegen gemäß - mit dem gezeichneten Reiter ein militärisches Motiv als Graffito zu sehen.

Nicolas-Toussaint Charlet:
Le gamin de Paris.
Buchillustration 1840



Eigentümlicherweise reicht auch in den konservativeren Haltungen das Anfertigen von Graffiti bis in die höchsten gesellschaftlichen Schichten. Selbst ein junger Napoleon scheint nicht umhin gekommen zu sein, seine militärische Karriere durch das Zeichnen auf Wände vorzubereiten. Dabei ist diese Darstellung aus der Jugend eines später berühmt Gewordenen durchaus keine neueste Erfindung. Künstleranekdoten berichten immer wieder vom überbordenden Genie, das sich anders als durch den spontanen Ausdruck auf der Wand kaum hat Luft schaffen können.

Der Gamin war in mancherlei Hinsicht ein Vorbild geworden. Seine Schlauheit, seine Spontaneität, sein Witz, seine Unverbildetheit sprach vielen aus der Seele. Im Ringen um Perspektiven nach der französischen Revolution gab es einige Leitbilder, und der Gamin ist sichtbar eines von ihnen.


Nicholas-Toussaint Charlet:
Napoléon elève a l'ecole militaire (1783)
Lithographie, wohl 1830er Jahre



Bei dieser Sympathie gegenüber den gesellschaftlich doch eher fremden Straßenkindern blieb es nicht. Ein Karikaturist wie Grandville porträtierte sich in der Pose des auf die Wand kritzelnden Gamin selbst.

GRANDVILLE
(Jean Ignace Isidore Gérard):
Selbstporträt als Gamin.
Titelvignette in: Cent Proverbes, Paris 1844.




Diese galante Gleichsetzung des Künstlertums mit der tatsächlichen Welt der Gamins beschönigte die soziale Realität zwar enorm; sie belegt aber eine wirklich weitgehende Identifikation zwischen Künstler und den auf den Strassen Lebenden. Diese Übereinstimmung läßt sich auf andere Weise ausgedrückt im Werk des deutlich konservativeren Lithografen Paul Gavarni wiederfinden.

Paul Gavarni:
"De l'Academie des Inscriptions et Belles Lettres"
Lithografie aus
"Les artistes", 1845
Sein Blatt mit dem vor allem im Französischen beziehungsreichen Titel "Von der Akademie der Inschriften und der schönen Buchstaben" 16 zeigt zwei über ihre Graffiti diskutierende Gamins und pointiert in der Überschrift die Gleichsetzung des künstlerischen Ausbildungsbetriebs mit dem "geheimnisvollen gegenseitig erteilten Unterricht" in der Beschreibung Victor Hugos. Auch die Rolle des "Feuers" bildet eine Verbindung zwischen Gamin und Künstler:
"Das Feuer, mein Guter, ist ein Element unserer Existenz." sagt der Künstler zum ihm Feuer gebenden Kesselflicker, der wiederum bezeichnenderweise vor einer mit Graffiti übersäten Wand sitzt 17: Der schöpferischen Energie des Künstlers soll das berufsnotwendige und wärmende Feuer des auf der Straße arbeitenden Lebenskünstlers entsprechen.

Paul Gavarni
"Le feu, mon brave, est un élément
de notre existence - Bien obligé!"
Lithografie aus Les artistes, 1838.


Gavarni kannte das Motiv der Graffiti allerdings nicht nur als galante Gleichung zwischen künstlerischer Bohéme und der idealisierten Umwelt der Gamins, sondern auch aus eigener Anschauung. Aufgrund seiner ständigen Schulden war er mehrfach im Schuldgefängnis gewesen und hatte dort die den Malern vorbehaltene Zelle bewohnt, deren Wand voller Zeichnungen war. Sein Interesse an diesen Graffiti hat sich in mehreren Lithografien dokumentiert, die die Zelle und seine Situation als Gefangener wiederspiegeln 18. Schon das erste Blatt zeigt einen - nicht vollständig wiedergegebenen - auf die Wand geschriebene Empfehlung an den Herren Nachfolger. Mit einer Art Galgenhumor versucht der gefangene Künstler, sich der bedrückenden Situation zu entwinden: Das Blatt Nr. 11 19 zeigt deutlich die Schuldenberechnungen an der Wand. Weder in finanziellen noch in anderen Affären kann der Gefangene seine ihn besuchende Freundin täuschen: "Hier kann man seiner Ninie nichts vormachen - das wurmt Dich so". Die Situation bekommt einen neuen Schwerpunkt, der deutlich leichter fällt: Bohémien ist und bleibt man schließlich, auch wenn man im Gefängnis sitzt. "Le portrait de créancier" schließlich zeichnet ein gehörntes Porträt seines Gläubigers an die Zellenwand. Wie wichtig ihm diese Wandzeichnungen waren, zeigte sich später: nach Besserung seiner materiellen Situation und der Entlassung aus dem Schuldgefängnis beauftragte er den Stecher Bara, die Graffiti abzuzeichnen 20 Einen etwas umfassenderen Eindruck der freskenhaften Ausmalung gibt das Blatt "L'Hotel des Haricots" wieder. Ins Medium des Holzstichs übertragen, ist die regelmässige und freskenhafte Plazierung der Graffiti auf der Wand auch wie eine Wohnraumausmalung des gehobenen Geschmacks lesbar - eine Parallele, welche der ironisch nobilitierende Titel des "Bohnenhotels" für das Schuldgefängnis ebenfalls nahelegt.

Paul Gavarni: L'hotel des haricots (Das Bohnenhotel) 1845. Illustration aus dem Zyklus "Les Gens de Paris", Untertext: Malheur! trois fois malheur aux capitaines rapporteurs "Qui vous y flanquent dedans pour trois fois vingt-quatre heurs!" ("...Schande! Drei mal Schande auf diese Haupt-Denunzianten!" - "Die Sie hier hereingebracht haben für drei mal vierundzwanzig Stunden!"

Das genrehafte Motiv der Graffiti wurde im Zusammenhang mit den Gamins überaus populär: kritzelnde und ein wenig genialische Gamins fanden sich bald auch in der noblen Gattung des Ölbildes wieder21. Zahlreiche Witzblätter wie auch Ölgemälde verwenden das Schema wurde von dort aus auch als Kennzeichen auf die Soldateska übertragen 22.

Vergleicht man fotografische und grafische Darstellungen von "petites metiers" - auf der Straße lebenden Gewerbetreibenden wie dem kleinen Kesselflicker in Gavarnis Lithografie - relativiert sich die romantisierende Funktion des Graffitimotivs jedoch rasch. Zwar existieren im Hintergrund fotografierter Szenen des öfteren Graffiti 23; sie fallen jedoch nicht groß auf, sondern sind wie beiläufig mit auf dem Bild vorhanden. Grafische Blätter des gleichen Themas stellen dagegen im Hintergrund der "Petit Métiers" kaum Graffiti dar. Es bleibt daher zweifelhaft, ob sie auf die Fotografen überhaupt als signifikante Lebenszeichen der in den Straßen lebenden Menschen gewirkt haben.

Zusammenfassend läßt sich zur Rezeption der Graffiti in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts folgendes feststellen: die charakteristischen Kritzeleien der Gamins wurden als deren Ausdrucksform sehr eng mit dessen Lebensweise auf der Straße in Beziehung gesehen, wobei auch auf die politische Bedeutung des Straßenproletariats und seiner Aussagen Wert gelegt wurde. Die Verwendung des Graffito als Erkennungszeichen des Gamin blieb dabei nicht nur auf Intellektuellenzirkel beschränkt, sondern erschloß sich im Laufe der Zeit immer weitere Bereiche der Gebrauchsillustration.

Durch den Vergleich der Gamins mit der Bohéme entstanden enge Bezüge zu ästhetischen Überlegungen der Zeit: zur Karikatur als dem Medium, welches zeichnerisch akzentuiert Gedanken des Künstlers umsetzen kann, zur Inspiration durch vorgefundene Strukturen, die durch die Imagination zu neuer künstlerischer Form gebracht werden sowie zur Rolle des "Lebenskünstlers", dessen Sonderrolle in der Gesellschaft und einem damit verknüpften Freiheitsbegriffs für die Kunst.


Thomas Rowlandson:
Dr. Syntax copying the wit of the window, 1812
Farbradierung, aus: Tour of Dr. Syntax in search of the pittoresque, Pl. 6.

Nun könnten solche Betrachtungen mit dem fachwissenschaftlichen oder nostalgischen Interesse abgetan sein, wie sie schon der englische Graphiker Thomas Rowlandson anfangs des 19. Jahrhunderts satirisch aufs Korn nahm: da studiert jemand die Graffiti und sieht nicht, was um ihn herum schief läuft. Die grundlegende Problematik allerdings wiederholt sich nahezu regelmäßig bis heute. Dass Graffiti heute als kultureller Umstand existieren, hat aber mit recht ähnlichen Gründen zu tun wie zu Zeiten des Birnenkönigs: den ungenügenden Möglichkeiten, sich ausdrücken zu können, der Überfremdung der Lebenswelten und nicht zuletzt auch der Faszination für elementare Handschriften.



Trotz der verfassungsgemäß verbrieften Rechte, sich ausdrücken zu können: die Möglichkeiten hierzu sind winzig, verglichen mit dem medialen Druck, dem gerade heutige Jugendlich als Hauptzielgruppe visueller Manipulation und als Konsumenten von Bildern ausgesetzt ist. Die verbriefte Pressefreiheit des neunzehnten Jahrhunderts kannte durchaus noch die königliche Zensur: entsprechende Stempel finden sich auf nahezu allen der hier angesprochenen Bilder. Solche Vorgänge sind heute eher durch den Markt geregelt: die Aufmerksamkeitsökonomie kennt eine sehr weitgehend abgestufte Hackordnung von den Fernsehwerbesekunden in Länderspielpausen über das Frühstücksradio bis hin zur kostenlosen und gedruckten Kleinanzeige. Graffiti rangieren meist unterhalb dieser Skala. Dass sie fast immer neben dieser kommerziell begründeten Wertigkeit existieren (und mitunter gegen sie), ist eine zeitlose Konstante.

Graffiti als Paralelle künstlerischer Gestaltung kehren spätestens seit diesen intensiven Gleichsetzungen in Bildern und Theorien immer wieder24. Hierfür gibt es mehrere Gründe. Vor dem Hintergrund einer ins Kraut schiessenden und unreflektierten industriellen Gestaltung der Umwelt hatten sich eben im 19. Jahrhundert Werkkunstschulen und Weltausstellungen etabliert. Dass diese wildwuchernde Inflation schlecht gestalteter Umwelt nicht nur bei politischen Verantwortlichen Wirkung zeigte, liegt als Gedanke nahe. Die Studentenbewegung der 1960er Jahre, die Hausbesetzer oder der Sprayer von Zürich haben später diesen engen Bezug zu einer politisch und gestalterisch ungenügenden Umgebung in Taten münden lassen.

Wer in dieser Umgebung auch noch den Eindruck mangelnder eigener Ausdrucksmöglichkeiten hat, wird die Paralelle von Graffiti und Kunst ohnehin als natürlich ansehen. Neben zahlreichen weniger Prominenten haben Heinrich Zille oder Brassai das mit ihren Fotos von Graffiti intensiv nachvollzogen.

Dass eine neue, unverbildetete Sicht auf gestalterische (und im übrigen auch politische) Prozesse erfrischend sein kann, ist eine naheliegende Hoffnung. Max Ernst, Paul Klee, George Grosz oder Jean Dubuffet beispielsweise haben sich bewusst auf diese Impulse berufen. Für die jüngere Kunstgschichte ist das lediglich der Prolog zu einer bis heute zwar wechselnd intensiven, aber andauernden Frischzellenkur für den akademischen Kunst - und Designbetrieb.

Wer heute die Betrachtung von Graffiti unter einem solchen Aspekt nicht gelten lassen will (wie es beispielsweise die jüngst etablierte Gesetzesverschärfung in Deutschland versucht), wird zu diesen Fragen einiges genau erklären müssen.

Dieser Text ist die stark erweiterte Fassung eines entsprechenden Kapitels aus: Johannes Stahl: Zwischen Alltag und Ästhetik. Zu Problemen der Wandzeichnung. München 1990 (zugl. Dissertation Bonn 1988).





 

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Fußnoten

1 So karikierten sich Künstler an den Wänden, wie ein 1829 entstandenes Aquarell "Künstlergesellschaft in einer Osteria" des Malers Christian LOTSCH zeigt. (Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum).

2Für die Heidelberger Universität ist die private, aber auch die politische Diomension nachvollziehbar unter: <www.fpi.uni-hd.de/.../Wandbeschriftungen_1.htm>.

3SHEON, Aaron: The discovery of Graffiti. In: Art Journal XXXVI/1, 1976, S.16-22.

4BAUDELAIRE, Charles: De l'essence du rire et généralement du comique dans les arts plastiques; in: Ouevres complètes, Paris 1961, S.975-993. Vgl. SHEON, S.17-18. Auch andere Gedanken über einen universalen Kunststil gehören in diesen Zusammenhang: TÖPFFER, Rodolphe: Réflexions et menus propos; Paris 1853, S.249-253; vgl. SHEON, S.20

5HUGO, Victor: Les griffonages de l'écolier. In HUGO: Poesie II. Paris 1970, S.538-540.

6Zitiert nach CORNEILLE, Roger & HERSCHER, Georges: Der Zeichner Victor Hugo. Wiesbaden 1963. Hierin Gaetan PICON: Die Tintensonne; S.9. über das Verhältnis von Poesie und Zeichnung im Privatleben HUGOs: "Im täglichen Stundenplan gehört der Zeichnung die Stunde der Entspannung: die Zeit des Gebetes wie die Zeit des Morgenkaffees, sie ist die Danksagung des Schriftstellers am Ende seines Arbeitstags."

7Beispielhaft seien hier Zeichnungen erwähnt, mit denen HUGO den Charakter des Gavroche bestimmt. Abb. in: Victor Hugo Dessins. Ausst.Kat. Paris (Maison Victor Hugo) 1985, S.138.
MEYLAN, Michel: Gavroche. Paris 1978. Abb. S.33, 83.

8HUGO, Victor: Der Glöckner von Notre-Dame. (Notre-Dame de Paris, Paris 1831). Zürich 1986, S.7 und 8.

9REAU, Louis: Histoire du Vandalisme. Paris 1959 Bd.II, S. 165 ff.

10MILLER, Norbert: Die Exotik des Vertrauten. In: Daidalos 16. Die Verklärung des Fragments: Collage City. Berlin 1985. MILLERs Aufsatz erwähnt die Bemühungen von MERYON sowie der Fotografen Charles NÉGRE, Henry le SECQ und des Zeichners Gustave DORÉ. In der topografischen Fotografie läßt sich jedoch zeigen, daß Graffiti zwar reichlich vorhanden waren, aber als Verunklärung der Bilder von den Fotografen der Pariser Straßen wohl bewußt gemieden wurden. Abbildungen in: Jaques HILLAIRET: "Dictionaire historique des rues de Paris" Paris 1961, das auf der Sammlung der Bibliothéque historique de la Ville de Paris basiert.

11SHEON (a.a.O.,S.16) erwähnt beispielsweise Honoré de BALZAC, der im Kapitel "Ferragus" seiner Comédie humaine Graffiti in der Rue Pagevin beschrieben hat.

12SHEON, a.a.O., S.17: "An article in the Magasin Pittoresque in 1835 discussed gladiatorial combats with information on weapons and tactics based on graffiti found on amphitheatres. In 1856 Garrucci published his major study Graffiti de Pompéi.(...) These kinds of research gave caricature and graffiti the status of historic documentation, especially for popular thought and culture."

13HUGO, Victor: Ein goldiger Ausspruch des letzten Königs. Zitiert nach HUGO, Die Elenden (Orig. Les Miserables), aus dem Französischen von Paul Wiegler und Wolfgang Günther. Berlin (O) 1983, Dritter Teil: Marius, 8.Kapitel, S.16. Eine Illustration Gustave BRIONs zur Ausgabe von 1867 setzt die Szene ins Bild um.

14Vgl. die Abbildungen in "Le gamin de Paris". Ausst.Kat. Paris (Musée d'Orsay); Paris 1986.

15Les Inscriptions murales du Gamin de Paris. In: L'intermediaire des chercheurs et curieux, Paris, 10.03.1866, S.138.

16Paul GAVARNI: De l'Academie des Inscriptions et Belles Lettres. In: Les artistes, 1838.

17Paul GAVARNI: "Le feu, mon brave, est un element de notre existence. - Bien obligé!" In: Les artistes, 1838.

18Paul GAVARNI: Clichy. Lithografieserie 1840.

19Clichy Nr. 11: "Ici on ne peut pas faire de farce à sa Ninie: v'la ce que te chiffonne"

20LEMOISNE, Paul André: GAVARNI. Paris 1924, S.67.

21Marie BASHKIRTSEFF: Le meeting; 1884. Öl/Lwd, (193 x 177cm); Paris, Musée d'Orsay.
Francisque POULBOT: Darstellungen von kritzelnden Gamins in "L'assiette au Beurre, 30.9.1905.

22Ernest MEISSONIER: Das Porträt des Sergeanten; 1874. Hamburg, Kunsthalle.
Francisque POULBOT: Darstellungen von kritzelnden Soldaten in "L'assiette au Beurre, 27.10.1906.

23WINTER, Gordon: A Cockney Camera. London's Social History Recorded in Photographs; Harmondsworth 1975, S.82 und 85.
Petit Métiers et types Parisiens vers 1900. ATGET GENIAUX VERT. Ausst.Kat. Paris (Musée Carnavalet) 1985, S.26 f.

24Hierzu äußert sich eingehend meine Dissertation: Zwischen Alltag und Ästhetik. Zu Problemen der Wandzeichnung. München 1990.