Mimmo Rotella

Warum haben gerade Wände die Kunstszene der 1940er Jahre so belebt? Antoni Tapiés schuf seine ersten Reliefbilder, Jean Dubuffet forderte, Wände malerisch zu erzeugen, Lucio Fontana verübte mit seinen Studenten gemeinsam Malanschläge auf frei stehende Wände, Walker Evans fotografierte die malerisch verwitterten Holzwände amerikanischer Holzhäuser. Offensichtlich schlug sich an der Idee der Wand sehr viel vom jener Umbruchsituation nieder, in der sie die Gesellschaft der Kriegszeiten befand. Und Wände signalisierten nicht nur die in Bewegung geratene Grenze zwischen privat und öffentlich, sie waren auch selbst eine optische Botschaft. Es liegt auf der Hand, dass ein neugieriger italienischer Künstler, der wie Mimmo Rotella mit einem frischen neapolitanischen Akademiediplom in die Ewige Stadt Rom kommt, sehr offen gegenüber solchen Impulsen ist.

Nach anfänglichen Beschäftigungen mit Lautgedichten und Graffiti, ersten negativen Erfahrungen mit der Presse und einem offensichtlich zu einem für ihn ungünstigen Zeitpunkt erhaltenen Reisestipendium in die USA hat er Anfang der 1950er Jahre die wichtige, befreiende Idee: er reisst Teile von Plakaten ab und findet so zu einem wirklich authentischen Material für seine Bilder. Zunächst für Collagen eingesetzt, verändert er seinen Zugang zum Ausgangsmaterial und den daraus entstehenden Bild immer mehr. "Décollage" nennt er letztlich seine Fragmente städtischer Wirklichkeit. Unabhängig von Rotella haben in Frankreich Raymond Hains, Jacques de la Villeglé und Francois Dufréne mit eben solchen Abrissen gearbeitet und der einflussreiche Kritiker Pierre Restany setzt sich für die so entstehende künstlerische Bewegung ein. Eine Besonderheit Rotellas bleibt jedoch immer die Einbeziehung eigener Gesten und Übermalungen - eine persönliche Zutat, die bei seinen französischen Kollegen heftige Kontroversen auslöst.

Neben solchen kunstinternen Debatten bleibt in der Öffentlichkeit der heftige gesellschaftliche Impuls der Plakatabrisse jedoch über eine Lange Zeit hin wirksam: solch ein armes, verbrauchtes Bildmaterial zu verwenden, das steht in krassem Gegensatz zu den immer üppiger ausfallenden Konsumträumen der aufblühenden Wirtschaftwunderzeit, und gerade die Plakate und der optische Ausverkauf städtischer Freiflächen transportiert diese Veränderungen. Und so teilen die Décollagisten gesellschaftliche Kritikpunkte sowohl der Pop art, die mit ihrer Wiedergabe der Alltagskultur immer auch etwas Ironie verband, wie auch der Arte povera, welche verbrauchte Materialien für ihre das Material auslotende nüchterne Sichtweise wieder verwendet.

Als man Mimmo Rotella zum Gutenberg-Jahr nach Mainz einlädt, ist er schon lange ein Klassiker. Auch mit Elementen der "schwarzen Kunst", dem Drucken, hat sich viele Jahre beschäftigt. Speziell die beim Drucken als Ausschuss übrig bleibenden Papiere oder die Fehldrucke, die beim Einrichten der Maschinen anfallen, sind ein künstlerisches Forschungsfeld: aus diesen Elementen hat er über lnage Zeit hin seine Werkserien "Mec Art" und "Artypo" entwickelt. In Mainz jedoch schafft er einen "klassischen" Rotella: einen grossformatigen Plakatabriss, auf dem ein handgezeichnetes Porträt erkennbar wird. Diese Hommage an den Erfinder der beweglichen Bleilettern setzt wiederum eine Edition um: als eine Edition, die gleichermassen für Gutenberg wirbt als auch die Abrisse solcher Druckerzeugnisse, eine Handlungsweise, die man Rotella im gleichen Jahr erstmals in seiner Heimatstadt Catanzaro offiziell erlaubt.

Johannes Stahl, 7/03

zurück zum
Inhaltsverzeichnis